Wie Sie mit den 15 CRM Leitsätzen nach Rall und Gaba Ihren Erfolg in der Teamarbeit maximieren und gleichzeitig Ihr Risiko für Fehler professionell reduzieren, lesen Sie hier:
Was sind die 15 CRM Leitsätze nach Rall und Gaba?
Zunächst erarbeiten wir den Ursprung und Sinn der Leitsätze, bevor wir in diesem ersten Teil der neuen Blogartikelserie die ersten fünf davon näher ansehen.
Warum geschehen Fehler in der Medizin?
Es liegt oft nicht an mangelndem Fachwissen, manuellem Können oder fehlendem Willen professionell zu arbeiten. Sondern an der Schwierigkeit, das Können in reellen Situationen als Team sicher umzusetzen und dabei Fehler so früh zu erkennen, daß sie unsere Patienten nicht schädigen.
Die beiden Anästhesisten und Pioniere in der Patientensimulation Dres. David M. Gaba und Marcus Rall erkannten dies klar und arbeiten seitdem hart daran, das in der Luftfahrt etablierte Crew Resource Management für die Medizin weiter zu adaptieren und in die Abläufe in Rettungsdienst und Klinik zu integrieren.
Die Formulierung der Leitsätze
Ein Kernstück ihrer Arbeit sind ihre 15 CRM Leitsätze (1). Darin fassen sie knapp und prägnant zusammen, wie wir mit CRM und geschickter Kommunikation die Teamarbeit so gestalten, daß wir unseren Patienten effizient und sicher helfen. Die Sätze sind ein Leitfaden dafür, alle Fertigkeiten als Team in einer komplexen Lage umzusetzen, dabei kritische Situationen zu meistern und Fehler zu minimieren.
1 Rall M, Gaba DM: Human performance and patient safety. In Miller’s Anesthesia. Edited by Miller RD. Philadelphia, PA: Elsevier, Churchhill Livingstone, 2009:93-150
1. Kenne Deine Arbeitsumgebung
Sicherheit in kritischen Situationen
Wenn Sie schon lange an einem Arbeitsplatz sind, kennen Sie ihn in- und auswendig, vielleicht ohne daß Sie lange darüber nachdenken, welche Sicherheit Ihnen die eingeübten Handlungsabläufe bieten.
Stellen Sie sich nun vor, sie haben alle Hände voll zu tun und müssen zusätzlich noch plötzlich drei verschiedene Dokumente für Ihren Chef kopieren. Klar, denken Sie, doch als Sie den Kopierraum erreichen, sehen Sie, daß dort ein neues und komplexes Gerät steht, das sie noch nie gesehen haben, geschweige denn, daß Sie jemand darauf eingewiesen hätte…
Im Büro können Sie sich noch helfen, Zeitdruck besteht immer, doch niemand wird ersticken, bis Sie das Problem gelöst haben. An anderen Arbeitsplätzen, wie im Cockpit eines Verkehrsflugzeuges bei einem Zwischenfall, oder wenn während einer Operation der Blutdruck des Patienten plötzlich in den Keller rauscht, möchte man sich nicht ausmalen, wie es wäre, wenn man völlig unvorbereitet auf neue Geräte oder Medikamente stoßen würde.
Daher wird in der Luftfahrt, aber auch im Rettungsdienst, akribisch darauf geachtet, daß jedes Teammitglied die Arbeitsumgebung kennt. Was gehört im Rettungsdienst dazu? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, sich das vorzustellen soweit wie Sie können.
Die rettungsdienstliche Arbeitsumgebung
Als erstes haben Sie vielleicht an die Rettungswägen (RTW) und Notarzteinsatzfahrzeuge (NEF) samt all der darin verlasteten Gerätschaften und Verbrauchsmaterialien gedacht. Hier auf dem neuesten Stand zu sein, ist unerläßlich, können doch z. B. EKG-Geräte, die während der Reanimation oder bei der Behandlung von Herzrhythmusstörungen rasch und sicher gehandhabt werden müssen, neue Software erhalten oder gleich durch neue Modelle ersetzt werden.
Zusätzlich ist es wichtig, das Wachgebiet gut zu kennen. Wir müssen wissen, wo welche Rettungswachen sind, wo ein NEF mit welcher Anfahrtszeit herkommen könnte, wo die Hubschrauber (RTH) stationiert sind und welche Krankenhäuser in der Umgebung über welche Abteilungen verfügen. Die richtige Zielklinik müssen wir frühzeitig auswählen, wenn wir z. B. Patienten mit Schlaganfällen, Herzinfarkten oder schweren Traumata versorgen.
Darüber hinaus hat jedes Wachgebiet noch seine Besonderheiten, z. B. chemische Betriebe, Forstwirtschaft mit Holzverarbeitung oder Autobahnabschnitte, aufgrund welcher wir bestimmte Verletzungsmuster erwarten müssen.
2. Antizipiere und plane voraus
In diesem Satz sind zwei Dinge enthalten. Zunächst das gedankliche Vorwegnehmen von dem, was uns als nächstes erwarten könnte. So sind zum Beispiel gute Pilotinnen und Piloten ihrem Flugzeug gedanklich zehn Meilen voraus. Der zweite Teil ist das Planen, das Vorbereiten auf die Dinge, die man antizipiert hat.
Mit diesen beiden Handlungen erreichen wir, daß wir auf Eventualitäten schon eingestellt sind und nicht erst in der eigentlichen Sitation anfangen müssen, Lösungen zu finden. Wir können so den Streß reduzieren und mit mehr Sicherheit und Überblick agieren sowie Gefahren vermeiden. Auch zeitkritische Entscheidungen können wir früher fällen.
Auf der Anfahrt zu einem Einsatz
Mit einer Einsatzmeldung unterwegs zur Einsatzstelle, versuchen wir so früh wie möglich, uns auf den Einsatz vorzubereiten. Dazu gehört es, alle Informationen zu sammeln, von der Leitstelle oder durch Rückmeldungen von ersten Fahrzeugen vor Ort.
Wir überlegen z. B. wieviele Patienten wir versorgen müssen, was deren Erkrankungen und Verletzungen sein können, an welche Zielkliniken wir denken müssen. Zusätzlich eruieren wir, ob wir bodengebunden selbst dorthin transportieren sollen oder es sinnvoller wäre, einen RTH anzufordern.
Wir ziehen auch Umstände wie das Wetter in Betracht. Eine Patientin kann nach einem Zweiradunfall in sengender Sonne oder eisiger Kälte liegen. Die Unfallstelle als solches kann Gefahren bergen, wie auslaufende Betriebsmittel oder Fahrzeuge, die an Hängen zu liegen kamen, von wo aus sie abrutschen oder nochmals umstürzen könnten. Gedanklich bereiten wir uns auf die Rettung aus solchen Situationen vor.
Das Wetter während eines Fluges
Piloten erhalten vor und während ihres Fluges fortlaufende Informationen zum Wetter auf ihrer Route. Wenn sie die Tropen durchfliegen, kann es zu starken Gewittern kommen, und die Piloten müssen überlegen, ob sie diese Zonen umfliegen wollen.
Auch mit schweren Unwettern an den Zielflughäfen müssen sie sich frühzeitig auseinandersetzen, da sie möglicherweise eine Landung an einem anderen Flughafen planen müssen, um die Menschen an Bord nicht zu gefährden.
Welcher Flughafen kommt überhaupt in Frage? Reicht das Kerosin bis dorthin? Da Fluggesellschaften sehr wirtschaftlich denken sind auch die folgenden Überlegungen mit einzubeziehen. Wie gestaltet sich die Weiterreise für Passagiere mit Anschlußflügen? Muß eventuell dann vor Ort übernachtet werden, wenn es schon spät ist? Wird die zulässige Arbeitszeit der Piloten überschritten? Letzteres war auch beim Unglück auf Teneriffa 1977 eine wesentliche Sorge der KLM-Crew (Seite 41).
3. Fordere Hilfe an, lieber früh als spät
Hier geht es nicht darum, für eine Aufgabe zu schwach oder inkompetent zu sein, sondern darum, früh zu antizipieren, daß man mit zusätzlicher Hilfe die aktuelle Aufgabe sicherer und effizienter ausführen wird. Man zeigt zudem, daß man sich seiner Verantwortung, aber auch seiner Resourcen, bewußt ist.
Die folgenden Beispiele zeigen, wie vielfältig Hilfe ist.
Ein Team im Rettungsdienst braucht Hilfe
Manche Patienten, die durch eine Verletzung nicht mobil sind, treffen wir in stark verwinkelten Gebäuden in oberen Geschossen an. Dazu kommt manchmal noch, daß der Patient nicht gerade schlank ist. In diesen Fällen überlegen wir zeitnah, welche Hilfe wir brauchen werden, um ihn sicher zum Rettungswagen zu transportieren. Je nach Gegebenheiten fordern wir ein weiteres Team als Traghilfe an oder alarmieren die örtliche Feuerwehr, damit wir den Patienten zusammen mittels Drehleiter aus dem Fenster retten können.
Im prehospital trauma life support, PHTLS, der prähospitalen Behandlung von Traumata, erwägt ein Team mit als erstes, welche Kräfte schon vor Ort sein werden und welche es noch brauchen wird. So wird bei manchen Unfällen die Feuerwehr benötigt (z. B. um ein am Hang befindliches Fahrzeug abzustützen), bei anderen die Wasserrettung, Höhen- oder Tiefenrettung.
Wir fragen die Oberärztin
Die Ausbildung zum Facharzt ist lang, und Assistenzärztinnen und -ärzte brauchen in ihren Diensten je nach ihrem bisherigen Kenntnisstand Hilfe. Gerade hier zeigt sich Verantwortungsbewußtsein, wenn eine junge Kollegin ihr Wissen und Können richtig einschätzt und erkennt, daß sie den komplexen Unterarmbruch eines Patienten lieber mit der Oberärztin bespricht.
Dabei kann sie sehr wohl demonstrieren, daß sie nicht inkompetent ist, indem sie, neben allen relevanten Informationen zum Patienten, all ihre Vorüberlegungen zu möglichen Komplikationen und Behandlungen gemäß ihres momentanen Kenntnisstandes präsentiert.
Unnötige Verzögerungen geschickt vermeiden
Wenn wir früh an die Hilfe denken und sie anfordern, ist sie logischerweise auch früher bei uns. Das wiederum hilft uns, den Patienten schneller aus einer mißlichen Lage zu befreien oder einen schmerzhaften Zustand, wie einen Unterarmbruch, rascher zu behandeln. Zusätzlich dazu haben wir mehr Zeit dafür, eine Alternative zu finden, wenn unsere als erste anvisierten Helfer nicht verfügbar sein sollten.
4. Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied mit Beharrlichkeit
In vielen Berufen und Betrieben sind die Rollen klar verteilt, jeder weiß, wer die Führungsperson ist. Ganz gleich ob diese nun gegeben ist, oder ein Team aus drei Rettungskräften eines RTW definiert, wer beim anstehenden Einsatz vorgehen wird, wir brauchen jemanden, der führt.
Die Aufgaben des Teamführers sind vielfältig und es ist für das Gelingen des Einsatzes wichtig, daß der Teamführer diese wahrnimmt. Das heißt keinesfalls, daß die Teammitglieder ihr Denken einstellen sollen, vielmehr ist ihr kompetentes Handeln essentiell. Bekanntermaßen ist eine Kette nur so stark wie ihr schwächstes Glied.
Aufgaben eines Teamführers
Ein Teamführer koordiniert den Einsatz, indem er die Aufgaben verteilt, deren Ausführung überwacht und nach Abschluß einem Teammitglied eine neue Aufgabe zuteilt. Bei ihm laufen alle Fäden und Informationen zusammen.
Die Teammitglieder unterstützen ihn aktiv, indem sie mitteilen, wann Aufgaben erledigt sind, aber auch, wenn sie zu wenige, zu viele oder für sie zu schwierige Aufgaben erhalten haben. Dadurch kann der Teamleader die Aufgaben passend auf das gesamte Team verteilen.
Der Teamführer sammelt die Informationen, die auch von den Teammitgliedern kommen, und sorgt dafür, daß das gesamte Team über die relevanten Bescheid weiß und ein gemeinsames mentales Modell vorhanden ist, z. B. für jeden die Arbeitsdiagnose klar ersichtlich ist.
Die Mitglieder sind tatkräftig bei der Sache und verschaffen sich Gehör
Die Mitglieder übernehmen die Aufgaben, für deren Ausführung sie ihr gesamtes Können einsetzen. Sie unterstützen mit ihren Rückmeldungen den Teamführer aktiv.
In heutigen Teams ist es besonders wichtig, daß jede und jeder unabhängig von der Position im Team Ideen einbringen oder auf potentielle Fehler explizit hinweisen soll, ggf. durch ein sogenanntes Speak up, das Ihnen schon gut vertraut ist.
Auch eine kurze Unterbrechung der Arbeit, damit das Team strukturiert reevaluieren und die als nächstes anstehenden Aufgaben festlegen kann, im Englischen Team Timeout, darf jede und jeder zu jedem Zeitpunkt einfordern. Darauf werden wir näher eingehen, wenn wir unten das 10-für-10-Prinzip erläutern.
Insgesamt sehen Sie, daß auf jeder Position im Team Wissen, Können und Einstellung gefragt sind. Das Team fügt diese in Summe zusammen, um seinen Patienten sicher zu versorgen.
5. Verteile die Arbeitsbelastung (10-für-10-Prinzip)
Durch die oben besprochene Verteilung der Aufgaben wird sichergestellt, daß die Arbeitsbelastung sinnvoll aufgeteilt wird, und alle Teammitglieder adäquat beitragen.
Alle Aufgaben ohne Redundanz erledigen
Wenn wir im Rettungsdienst zu einer Patientin und ihren Angehörigen kommen, so fallen viele Aufgaben fast zeitgleich an. Strukturiert beginnt der Teamleader das Patientengespräch, die Teammitglieder beginnen mit den Messungen der Vitalzeichen, bereiten je nach Beschwerdebild ein EKG vor.
Auch die Angehörigen wollen gehört werden und stellen zudem oft wichtige Informationen, wie Medikamentenpläne und frühere Arztbriefe, bereit, die beachtet werden sollen.
Sodann wird entsprechend der Diagnose die Behandlung und das weitere Vorgehen festgelegt.
Die Verteilung der Arbeitsbelastung hilft dabei, alle Aufgaben ohne Auslassungen effizient zu erledigen. Durch geschickte Koordination und Rückmeldungen stellt der Teamführer sicher, daß keine Aufgaben doppelt erledigt werden.
Doppelte Erledigung wäre z. B. wenn zwei Teammitglieder bei Patientin und Angehörigen diesselben Informationen zur Krankengeschichte erfragen.
Das 10-für-10-Prinzip
Wird die Situation durch plötzliche Verschlechterung der Patientin oder Komplikationen komplex und unübersichtlich, so hat es sich in der Praxis bewährt, ein sogenanntes Team Timeout einzusetzen. Dabei steht 10-für-10 für „zehn Sekunden für die nächsten zehn Minuten“.
Das gesamte Team (Ausnahme Herzdruckmassage bei Reanimation) sammelt seine Aufmerksamkeit und bespricht sturkturiert, was anliegt und welche Maßnahmen in welcher Reihenfolge von wem vorgenommen werden sollen. Die Aufgaben werden entsprechend verteilt. Aktiv wird besprochen, ob es noch Rückfragen oder weitere Punkte gibt. Sobald das verneint wird, geht das Team vor wie besprochen.
Auch wenn es zunächst gegen die Intuition sein sollte, die Arbeit in einer komplexen Situation zu unterbrechen, so holt man die vermeintlich verlorene Zeit durch die Effizienz der geschickt koordinierten Aufgaben wieder ein. Zudem hat das Team für einen Überblick und damit auch Streßreduktion gesorgt, was nicht zuletzt das Risiko für Fehler minimiert.
6. Im nächsten Blogartikel arbeiten wir uns weiter vor
Schon bei unseren ersten fünf Leitsätzen haben Sie gesehen, daß diese miteinander verflochten sind. Im Laufe der nächsten zwei Blogartikel werden wir weitere solcher Verflechtungen entdecken und auch eruieren, welchen Unterkategorien des CRM, z. B. Kommunikation, die einzelnen Sätze zuzuordnen sind.
Im Oktober nehmen wir uns weitere fünf Sätze vor. Unter anderem werden wir uns damit befassen, wie wir alle Ressourcen sowie Informationen nutzen und wie wir sicher kommunizieren. Wir werden sehen, was Fixierungsfehler sind und wie wir dagegen vorgehen.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 23. September 2022
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.