Wichtiges zu fünf weiteren CRM Leitsätzen, inclusive der geschickten Nutzung von Resourcen und Informationen sowie der Vermeidung von Fixierungsfehlern, lesen Sie hier:
Eine Aufwärmübung zu den nächsten fünf Leitsätzen
Wenn Sie wünschen, gehen Sie noch einmal zurück zum ersten Teil dieser Serie. Nehmen Sie sich dann die hier noch einmal aufgeführten Leitsätze vor und schreiben Sie kurz auf, was Ihnen dazu bezüglich Ihres eigenen Arbeitsplatzes in den Sinn konmmt.
- 1. Kenne Deine Arbeitsumgebung
- 2. Antizipiere und plane voraus
- 3. Fordere Hilfe an, lieber früh als spät
- 4. Übernimm die Führungsrolle oder sei ein gutes Teammitglied mit Beharrlichkeit
- 5. Verteile die Arbeitsbelastung (10-für-10-Prinzip)
Nachfolgend gehen wir Schritt für Schritt weitere fünf Leitsätze durch. Wir beleuchten dabei auch, wie sie mit dem einen oder anderen der ersten fünf und untereinander zusammenhängen. Teilweise beziehen sie sich auf Ihnen schon bekannte CRM Prinzipien. Da es die Leitsätze 6-10 sind, tragen die Überschriften diese Nummern.
6. Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen
6.1. Was sind unsere Ressourcen?
So banal wie diese Frage klingt, so wichtig ist es, sich im vorhinein damit zu beschäftigen, um in einer komplexen Situation zielsicher von allen Ressourcen Gebrauch zu machen.
Ressourcen im Rettungsdienst umfassen z. B.:
- alle Teammitglieder mit Wissen, Können und Einstellung
- weitere Teams, z. B. Feuerwehr und Polizei
- die Leitstelle (z. B. Informationen zum Einsatz, teilweise Benachrichtigung der Zielklinik)
- unsere Fahrzeuge mit allem Arbeitsmaterial
- Informationen
- Checklisten und SOPs
- Zielkliniken in unserem Wachgebiet
Ressourcen während eines Fluges beinhalten z. B.:
- die Pilotinnen und Piloten sowie das Kabinenpersonal mit Wissen, Können und Einstellung
- das Flugzeug mit aller Ausrüstung
- Informationen über das Wetter und Kartenmaterial (Routen und detaillierte Pläne der Flughäfen)
- die Flugaufsicht im Tower und während des Fluges
- eventuell technische Unterstützung am Boden bei Ausfällen
- Hilfe am Boden bei medizinischen Notfällen (z. B. Informationen über Kliniken an bestimmten Orten auf der Route)
6.2. Welche schon bekannten Leitsätze spielen hier mit hinein?
Die Ressourcen zu kennen heißt auch, die Arbeitsumgebung zu kennen (1.). Da weitere Teams, die wir hinzuziehen können, uns Hilfe leisten, gilt auch der dritte Satz: Fordere Hilfe an, lieber früh als spät. Wenn wir Hilfe durch weitere mobilisierte Ressourcen bekommen, verteilen wir dadurch die Arbeitsbelastung besser, somit gilt zusätzlich der vierte Satz: Verteile die Arbeitsbelastung.
6.3. Das erreichen wir mit unseren Ressourcen
Nachdem wir uns unsere verschiedenen Ressourcen vergegenwärtigt haben, fassen wir hier stichpunktartig zusammen, was wir durch ihre Mobilisierung, auch im Lichte der Leitsätze 1., 3., und 4. erreichen:
- sicheres und zeitsparendes Arbeiten, da wir nicht lange überlegen und suchen müssen
- durch diese Sicherheit haben wir Kapazitäten frei, um mit komplexen Situationen umzugehen
- wir wissen, wie wir die Ressourcen in der komplexen Situation vorteilhaft nutzen (z. B. unsere Hände, Köpfe, Arbeitsmaterial, Checklisten und SOPs, zusätzliche Teams)
- wir wissen, wo wir Hilfe bekommen und verteilen die Aufgaben auf alle verfügbaren Kräfte
- so reduzieren wir Streß in der komplexen Situation
- wir minimieren durch die Sicherheit und Streßreduktion das Risiko von Fehlern
6.4. Die Limitationen unserer Ressourcen
Trotz allen Wissens und Könnens, trotz allem, was uns in einem Einsatz zur Verfügung steht, so haben unsere Ressourcen Limitationen, die wir genauso gut kennen sollten. So sind die medizinischen Behandlungen, die wir vor Ort und auf einem Transport beginnen können, begrenzt.
7. Kommuniziere sicher und effektiv, sag‘ was Dich bewegt
Zu diesem Leitsatz gibt es viel zu kommunizieren. Daher beschränken wir uns hier auf den Rettungsdienst als Modell zur Veranschaulichung. Kommunikation ist mehr als ein Prinzip im CRM, sie hilft uns, alle CRM Prinzipien als Team sicher umzusetzen.
7.1. Mit wem kommunizieren wir?
Schon hier können wir viele Unterpunkte aufführen:
- innerhalb unseres Teams, mit allen Teammitgliedern
- mit anderen Teams (Leitstelle, Polizei, Feuerwehr, u. a. m.)
- mit unserem wichtigsten Teammitglied: unserer Patientin oder unserem Patienten
- mit den Angehörigen (sie sind besorgt, liefern und benötigen Informationen)
- mit der Zielklinik (ist überhaupt ein Bett frei, Zustand des Patienten und Diagnose, Absprache ggf. weiterer Maßnahmen auf dem Transport, Zustandsänderungen auf dem Transport)
7.2. Was kommunizieren wir?
Sie können sich sicherlich vorstellen, daß wir im Einsatz sachbezogen kommunizieren. Das wiederum hilft uns, den Focus zu behalten und z. B. keine Informationen zu übersehen. Mit Informationen als solchen befassen wir uns nachfolgend im Leitsatz 8.
Folgende Dinge werden beispielsweise besprochen:
- auf der Anfahrt alle schon bekannten Fakten, z. B. das Wetter (Unfall, Verfügbarkeit Hubschrauber), ggf. zusätzliche Einsatzkräfte
- strukturiert übergibt das ersteintreffende Team, was es über den Patienten schon herausgefunden hat
- wir besprechen alle relevanten Informationen, darunter den aktuellen Zustand und die Vitalwerte, Vorerkrankungen, Medikamentenplan, Allergien
- wir legen unser Vorgehen fest und verteilen die Aufgaben
- wir teilen alle Arbeitsschritte dem Patienten und ggf. den Angehörigen mit
- wir besprechen mit Patient und Angehörigen die Zielklinik sowie z. B. Kontaktaufnahme und Besuchsmöglichkeiten
7.3. Wie kommunizieren wir?
Vor allem bleiben wir ruhig und sachlich. Ohne Hektik oder Lautwerden werden Informationen besprochen, Aufgaben verteilt, ihre Erledigung rückgemeldet. Wir sollten uns bemühen, klar und verständlich zu sprechen und die Dinge präzise beim Namen nennen.
Wir sollten Teammitglieder explizit mit Namen ansprechen und warten, bis wir ihre Aufmerksamkeit haben. Zudem sollten wir beachten, ob das Team gerade hochkonzentriert mit einer Aufgabe beschäftigt ist. Einen Blutzuckerwert halblaut vor sich hinzusagen, während die drei anderen gerade intensiv das EKG studieren, ist wenig sinnvoll.
7.4. Wichtige Kommunikationstechniken
Wenn Sie bisher fleißig mitgelesen haben, sind Ihnen geschlossene Kommunikationsschleifen, das Speak up, Standardformulierungen sowie die Regel des sterilen Cockpits schon gut vertraut.
Da die Kommunikation wie ein Bindeglied im CRM funktioniert, hängt sie mit allen übrigen der 15 CRM Leitsätze zusammen.
8. Beachte und nutze alle verfügbaren Informationen
Am Beispiel des Rettungsdienstes werden wir sehen, aus wievielen Quellen die Informationen fast zeitgleich fließen können. Daher sehen wir uns nachfolgend an, wie wir mit den Informationen strukturiert umgehen, um diese Komplexität zu meistern.
8.1. Informationen aus einer Vielzahl von Quellen
- wir erhalten das Einsatzstichwort sowie erste Informationen von der Leitstelle
- auf der Anfahrt kommen eventuell erste Rückmeldungen vom ersten Team vor Ort
- bei der Patientin angekommen erfahren wir die aktuellen Symptome und die Vitalwerte
- Patientin und Angehörige berichten uns über Vorerkankungen, Allergien und Medikamente, teilweise spontan, manchmal zeitgleich an verschiedene Teammitglieder, teilweise auf Nachfrage
- Arztbriefe, Medikamentenpläne sowie verschiedene Ausweise (z. B. Herzschrittmacher, Implantate, Diabetikertagebuch, Dokumentation eines Blutverdünners) werden uns vorgelegt, oft während ein anderes Teammitglied mit der Patientin wichtige Informationen zusammenträgt
- wir erfragen, welches Zielspital wir anfahren können und bekommen ggf. dazu Rückmeldungen oder Alternativen aufgezeigt
8.2. Strukturierung der Informationen, um sie alle beachten zu können
Wie wir oben für den Rettungsdienst erwähnt haben, so erhalten wir manche Informationen zeitgleich. Nun gilt es, diese zu ordnen, damit wir sichergehen, alle Fakten zu haben, die wir brauchen, sie nach Wichtigkeit zu klassifizieren und keine relevanten zu übersehen.
Ein festes Schema kann helfen: aktuelle Symptome, Vitalwerte, dann Vorerkrankungen, Allergien, Medikamente, weitere Informationen. Ggf. kann sich jeder dafür eine kurze Checkliste zurechtlegen und im Kopf durchgehen.
8.3. Wir setzen die Informationen um
Anhand der Informationen werden wir nun Entscheidungen treffen. Was soll in welcher Weise behandelt werden? Je nach Komplexität machen wir ein Team-time-out und nutzen ein strukturiertes Modell zur Entscheidungsfindung. Im Anschluß werden die sich ergebenden Aufgaben verteilt.
Die Informationen, die wir nun umsetzen, sind wiederum Ressourcen, die wir nutzen.
8.4. Was kann passieren, wenn wir Informationen auslassen?
Wenn wir Informationen vergessen einzuholen oder sie untergehen, während sich das Team auf eine Aufgabe konzentriert, so kann das mehrere Folgen haben. So übersehen wir möglicherweise einen behandlungswürdigen Zustand, z. B. einen Unterzucker.
Es ist möglich, daß wir Allergien übersehen und ein Medikament geben, das unsere Patientin keinesfalls erhalten darf. Dasselbe gilt für Kontraindikationen und mögliche Wechselwirkungen mit einer Medikation, die die Patientin schon fest einnimmt.
Eine übersehene oder nicht aktiv eingeholte Information kann auch dazu führen, daß wir uns ein falsches mentales Modell zum Zustand der Patientin zurechtlegen und dieses beibehalten, obwohl es falsch ist. Wenn wir beim Unterzucker bleiben, der möglicherweise ein krampfähnliches Geschehen ausgelöst hat, so wäre es nicht das erste Mal, daß ein Team jetzt antiepileptische Medikamente verabreicht anstatt die Ursache mit einer Glucoseinfusion zu beheben.
Ein falsches mentales Modell ist eine Art des Fixierungsfehlers. Fixierungsfehler sind tückisch, wie wir gleich sehen werden. Deshalb wurde ihnen ein eigener Leitsatz gewidmet.
9. Verhindere und erkenne Fixierungsfehler
9.1. Die so menschlichen Fixierungfehler schleichen sich leicht ein
Ein falsches mentales Modell, also eine Vorstellung von der Situation in unseren Köpfen, die nicht der Realität entspricht kann auf übersehenen Informationen beruhen oder auf solchen, die wir kritiklos von anderen übernommen haben.
Informationen können wir übersehen, wenn wir nicht sorgfältig genug arbeiten, was Einstellungssache ist, aber auch, wenn wir unterbrochen und abgelenkt wurden.
Auch das nachfolgende Beispiel zeigt einen Mechanismus für einen Fixierungsfehler auf.
9.2. Beispiel für ein tückisches mentales Modell im Rettungsdienst
Ein alkoholkranker Obdachloser fällt immer wieder von derselben Parkbank, hilfsbereite Passanten rufen wiederholt den Rettungsdienst. Auch an diesem kühlen Morgen denkt das Rettungsteam: „Klar, er ist einmal mehr betrunken.“ Doch welche Konsequenzen hat es, wenn er dieses Mal eine Gehirnblutung hat?
Eine solche Diagnose ist gar nicht so abwegig, wenn der alkoholkranke Patient fehlernährt ist und eine eingeschränkte Leberfunktion hat, sodaß die Gerinnungsfaktoren nicht in ausreichender Menge von der Leber produziert werden. Weitere mögliche Ursachen kommen hinzu, zum Beispiel ein vorausgegangenes Sturzgeschehen.
Der Patient mit der potentiellen Hirnblutung ist in Lebensgefahr, daher muß das Team entsprechend handeln und ihn adäquat erstversorgen und in die richtige Zielklinik bringen, in der eine solche Blutung diagnostiziert und behandelt werden kann.
Da Fixierungsfehler allzu menschlich und schnell geschehen sind, müssen wir uns ihrer besonders bewußt sein.
9.3. Das unternehmen wir gegen Fixierungsfehler
Wie wir im Beispiel oben gesehen haben, dürfen wir nie zu bequem sein, unser mentales Modell von der Situation zu hinterfragen. Wir dürfen uns nicht davon verleiten lassen, wie einfach es wäre, jetzt kurz und knapp den gewohnten Standard abzuarbeiten.
Wir sollten unseren kritischen Blick behalten und das Team nach weiteren Sichtweisen fragen. Als Teammitglieder sollten wir den Mut haben, aktiv Einspruch zu erheben, wenn wir einen Fehler im mentalen Modell entdeckt haben.
Informationen, die wir für unsere Arbeitsdiagnosen und Entscheidungen verwendet haben, sollten wir sorgfältig und ggf. wiederholt überprüfen, was uns zum zehnten Leitsatz bringt.
10. Überprüfe sorgfältig und habe Zweifel (nie etwas annehmen)
10.1. Diskrepante Informationen aus verschiedenen Quellen verusachen beinahe einen Flugunfall
Die Beinahekollision zweier Flugzeuge der Japan Airlines am 31. Januar 2001 zeigt uns, welche ernsthaften Konsequenzen diskrepante Informationen haben können. Als sich beide Flugzeuge in der Luft näher kamen, wies in beiden das integrierte Traffic Alert and Collision Avoidance System (TCAS) den Piloten eine aufeinander abgestimmte Änderung der Flughöhe an.
Zusätzlich dazu erhielt die Mannschaft im Cockpit der Boeing 747 eine genau entgegengesetzte Anweisung der Flugaufsicht. Die Mannschaft entschied sich, der Flugaufsicht zu folgen, ohne die Diskrepanz zu kommunizieren, wodurch es zur Beinahekollision kam. Im Zuge der Aufarbeitung dieses Vorfalles wurde bestimmt, daß in solchen Situationen stets den Anweisungen des TCAS Folge geleistet werden soll.
10.2. In welchen Situationen überprüfen wir Angaben?
Wir sollten dann die Angaben nochmals sorgfältig überprüfen, wenn:
- wir Angaben von anderen übernehmen (stimmt z. B. die Seite der Verletzung?)
- wir in der Arbeit unterbrochen wurden (haben wir wirklich alle Informationen erfaßt?)
- es verschiedene Angaben aus mehreren Quellen gibt
- wir ein Bauchgefühl haben, daß etwas nicht stimmt
- wir in komplexen Situationen viele Informationen auf einmal erhalten
- alles was Ihnen noch einfällt
10.3. Wie stellen wir die sorgfältige Überprüfung an?
Gerade in den oben genannten Situationen sollten wir unsere Quellen nochmals sorgfältig durcharbeiten. Welche Angaben passen zur aktuellen Lage? Was paßt nicht dazu? Warum nicht? Haben wir weitere Möglichkeiten, um an Informationen heranzukommen? So haben wir schon in mehreren Einsätzen behandelnde Hausärzte angerufen oder ein Spital, in dem eine Patientin bereits bekannt ist, und dort nach Vorbefunden gefragt.
Wir fragen unsere Teammitglieder, wie sie die Informationen auffassen und was ihnen noch aufgefallen ist. Haben wir selbst etwas übersehen?
Wenn wir trotz aller Bemühungen nicht herausfinden können, welche Angabe stimmt, gehen wir vom ungünstigsten Fall aus und richten unser Handeln danach aus.
Wie wir schon erwähnt haben, ist die sorgfältige Überprüfung von Informationen, besonders aus verschiedenen Quellen, auch ein Mittel, um Fixierungsfehler zu vermeiden.
Im nächsten Blogartikel erreichen wir die Ziellinie
…zumindest was die 15 CRM Leitsätze nach Rall und Gaba in der Theorie anbelangt. In der Praxis wird es richtig interessant, denn es erfordert einige Übung, in komplexen Situationen wirklich an sie zu denken und nach ihnen zu handeln.
Um diese Serie abzuschließen, werden wir uns im November damit befassen, wie wir gute Teamarbeit garantieren, Merkhilfen einsetzen, unsere Aufmerksamkeit lenken, die Situation immer wieder evaluieren und unsere Prioritäten dynamisch setzen.
Erneut werden wir erkennen, wie die 15 CRM Leitsätze miteinander zusammenhängen und warum sie das tun.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 29. Oktober 2022
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.