Über die Nachbesprechung in der Medizin, ihren Ablauf und Umsetzung der Lernpunkte, lesen Sie hier:
1. Klinische Fälle liefern viele Themen für die Nachbesprechung
1.1. Transport eines Patienten im Tragetuch
Eine Rettungswagenbesatzung und ein Notarztteam werden zu einem Patienten gerufen, der seit einer Stunde eine Halbseitenlähmung und Sprachschwierigkeiten bemerkt. Das Team stellt schnell den vorliegenden Schlaganfall fest, legt eine Infusion an und meldet den Patienten im nächstgelegenen Schlaganfallzentrum an. Bei einbrechender Dunkelheit muß es bodengebunden transportieren, ein Helikoptereinsatz ist nicht mehr möglich.
Nun muß der Patient zunächst die Treppe hinuntergetragen werden, wofür ein Tragetuch verwendet wird, an welchem mehrere Helfer anfassen. Als das Team genau zwischen zwei Stockwerken ist, verlöscht das Licht. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich eine Angehörige, die mit auf dem Weg nach unten ist, zum Lichtschalter vorgetastet hat. Dies war nicht der erste Einsatz im Rettungsdienst, bei dem das passiert.
Warum wurde vergessen, die Angehörige zu bitten, beim Lichtschalter zu bleiben? Diese Ursache des Fehlers ist es, die das Team in der Nachbesprechung klären sollte.
Auch wenn im vorliegenden Fall niemand zu Schaden kam, so ist plötzliche Dunkelheit während eines solchen Tragens alles andere als ungefährlich. Bei einem beatmeten Patienten kann die Verbindung von Tubus zu Beatmungsgerät unterbrochen werden, oder im Extremfall der Tubus gleich aus der Luftröhre gezogen werden, wie vor Jahren in einem System zur anonymen Fehlermeldung berichtet wurde.
1.2. Ein Patient mit Krampfanfall
Das Team findet im Schlafzimmer einen Patienten krampfend in seinem Bett vor. Vor den Lippen ist Schaum und etwas Blut zu sehen, ein Hinweis auf einen Zungenbiß. Zudem hat der Patient eingenäßt. Die Ehefrau ist verständlicherweise aufgeregt und berichtet, daß ihr Mann so etwas noch nie hatte. Das Team unterbricht den Krampfanfall zügig durch die intranasale Gabe von Midazolam.
Als das Team nach dieser Erstmaßnahme eine Infusion anlegt, mißt es den Blutzuckerspiegel. Der Wert ist deutlich zu niedrig, die somit vorliegende Hypoglykämie hatte also den Krampfanfall bedingt. Auf die explizite Nachfrage der Notärztin hin erzählt die Ehefrau, daß der Patient ein insulinpflichtiger Diabetiker ist, der immer wieder mit schwankenden Blutzuckerwerten zu kämpfen hat. Nach Glucosegabe klart der Patient auf und wird in stabilem Zustand im Spital übergeben.
Hätte das Team durch eine sofortige Anamnese der möglichen Auslöser für Krampfanfälle, die Ursache eher entdecken und als erstes Glucose zur erfolgreichen Behandlung geben können? Wie kann sich ein Team aufteilen, um Erstuntersuchung und Befragung unter einen Hut zu bringen?
Während der Nachbesprechung äußern alle Beteiligten, daß sie nicht sofort an eine mögliche Blutzuckerentgleisung als eigentliches Problem gedacht hatten, sich den Fall aber gut merken und künftig fragen werden, ob ein Diabetes vorliegt.
Schon an diesen beiden Beispielen mit zwei voneinander unterschiedlichen Problemen erkennen wir, wieviel es durch konsequente Nachbesprechungen nach Einsätzen zu lernen und weiterzuentwickeln gibt.
2. Ablauf einer Nachbesprechung, Hilfsmittel, Tips und Tricks
2.1. Aus diesen Teilen besteht eine Nachbesprechung
Eine feste Struktur trägt dazu bei, daß die Nachbesprechung für alle Beteiligten konstruktiv verläuft und keine relevanten Aspekte unter den Tisch fallen. Folgende Phasen sollten enthalten sein:
- Sammlung aller Beteiligten ohne daß nebenbei die Rettungsfahrzeuge wieder aufgerüstet werden
- Besprechung aller Punkte, die positiv sind
- Erörterung der verbesserungswürdigen Abläufe und Handlungen
- Festlegung von künftigen Strategien zur Prävention von Fehlern
- ggf. Festlegung, wie der Fall anonym weitergegeben und Verbesserungen mit der gesamten Belegschaft ausgearbeitet werden sollen
- explizites Festhalten der guten Leistungen und warum diese erreicht worden waren
- Rückfragen, ob es noch weitere Anmerkungen gibt
2.2. Ein hilfreiches Werkzeug um Fehler systematisch zu analysieren
Das sogenannte London-Protokoll wurde vom Imperial College of London zur systematischen Analyse von unerwünschten Ereignissen entwickelt. Das Hauptaugenmerk liegt auf der intensiven Ursachenforschung und Etablierung von Verbesserungen. Doch das Protokoll kann auch in einem fünf- bis zehnminütigen Gespräch angewandt werden. Man kann es von der oben verlinkten Website in mehreren Sprachen herunterladen.
Folgende Faktoren, die schlußendlich gemeinsam ein nicht erwünschtes Ereignis bedingen, können wir schon bei der ersten Analyse berücksichtigen:
- die Kultur des Managements und die Organisation
- Faktoren, die Fehler begünstigen, z. B. in der Umgebung, im Team, bei den Individuen, den Patienten betreffend
- die wirklich sichtbaren Fehler, die konkret gemacht wurden
- die etablierten Abwehrmechanismen für Fehler, die in diesem Fall versagt haben
2.3. Tips und Tricks für die Ursachenforschung
Wenn wir etwas wirklich wissen wollen, sollten wir unsere Fragen entsprechend stellen. Sogenannte W-Fragen sind offene Fragen, die dem Gesprächspartner alle Möglichkeiten zu seiner Antwort lassen. Beispiele includieren: „Wem hast Du das gesagt?“, „Wann hast Du die Elektroden zur Defibrillation aufgeklebt?“
Im Anschluß an unsere Frage sollten wir geduldig abwarten. Die oder der andere überlegt möglicherweise gerade intensiv. Diesen Prozeß stören wir nur, wenn wir sofort eine zweite Frage stellen oder unsere Frage umformulieren. Wir schweigen einfach, bis wir eine Antwort erhalten.
Wenn unser Gegenüber unsere Frage beantwortet hat, dürfen wir in der Sache ruhig nachhaken, um Gründe vollständig zu eruieren. Dabei wollen wir niemanden exponieren, sondern wissen, was wir künftig alle zusammen beachten müssen.
Wenn jemand z. B. sagt „ich dachte, daß…“ sollten wir genau hinhören, denn jetzt kommen die Hintergründe für Handlungen ans Licht.
3. Nachbesprechung nach Übungen und in der Praxis
3.1. Die Nachbesprechung von simulierten Fallscenarien
Es verlangt den Teilnehmenden einigen Mut ab, an einem Simulator ein Scenario als Team abzuarbeiten und hinterher nachzubesprechen. Viele von ihnen, darunter auch ausgewiesene Experten, fühlen sich exponiert, wenn anhand von Videoaufnahmen das Scenario unter die Lupe genommen wird. Folgende Punkte sind bei dieser Form der Nachbesprechung wichtig:
- die Teilnehmenden werden abgeholt und man setzt sich gemeinsam in einer Runde
- jede und jeder sollte es bequem haben und darf den Kaffeebecher mitnehmen
- mit offenen Fragen eruieren die Trainerinnen und Trainer, was den Teilnehmenden selbst aufgefallen ist
- das unerfahrenste Teammitglied sollte beginnen, damit es sich nicht später der Meinung der Expertinnen und Experten anschließt und vielleicht wichtige Beobachtungen zurückhält
- die Teilnehmenden sollen selbst die entscheidenden Punkte entwickeln, unterstützt durch die Trainer
- dabei ermutigen die Trainer das Team zuerst dazu, zu evaluieren, was es toll gemeistert hat, denn es ist wichtig zu wissen, warum diese Handlungen und Entscheidungen Erfolg brachten
- ganz explizit wird bei aufgefallenen Fehlern das Warum hinterfragt, solange, bis durch die gemeinsame Beleuchtung klargeworden ist, was die Fehlerursache war
- entscheidend sind nicht die sichtbaren Fehler, sondern ihre Ursachen
- gemeinsam erarbeitet das Team Lösungsansätze, die sich wirklich in die Realität übertragen lassen, unterstützt von Trainerinnen und Trainern
- ein Teammitglied faßt die wichtigen Punkte noch einmal zusammen
- in einer abschließenden Runde darf jeder Teilnehmende noch einmal äußern, was sie oder er mitnimmt
3.2. Die Nachbesprechung nach dem realen Einsatz
Rettungsdienstteams sollten auch im Alltag ihre Einsätze nachbesprechen, zumindest all diejenigen, die keine reine Routine waren oder das Team vor Herausforderungen stellten. Fehler und Beinahefehler sollte ein Team genauso besprechen, wie besonders erfolgreiche Einsätze. Viele Punkte ähneln der Nachbesprechung in der Simulation:
- das Team sollte komplett sein und sich in einer Runde positionieren
- dies geschieht entweder auf der Wache nach größeren Einsätzen oder direkt nach Einsatzende, je nach den Gegebenheiten
- das unerfahrenste Teammitglied sollte seine Beobachtungen zuerst vortragen
- das Team sollte gut gelungene Abläufe und effizient kommunizierte Inhalte analysieren
- bei der Besprechung von verbesserungswürdigen Punkten sind Schuldzuweisungen nicht zielführend
- wie nach der Simulation sollte das Team vielmehr gemeinsam die Ursachen für Fehler und Beinahefehler finden und Lösungen für die Zukunft erarbeiten
- abschließend faßt das Team die wichtigen Punkte zusammen und stellt sicher, daß kein Teammitglied noch unausgesprochene Anmerkungen oder Ideen mehr hat
Wie das Team jetzt seine Ergebnisse in die Tat umsetzt, sehen wir uns unter Punkt 5. an.
4. Hindernisse für eine Nachbesprechung im Arbeitsalltag
4.1. Hindernisse im Rettungsdienst
Im Rettungsdienst kommen der Rettungswagen, RTW, und das Notarzteinsatzfahrzeug, NEF, nicht selten von zwei verschiedenen Wachen, da die Einsatzgebiete der NEFs gerade im ländlichen Raum sehr weitläufig sind. Hier kann es schwierig werden, eine Nachbesprechung abzuhalten, wenn der RTW alleine in die Klinik fährt oder das NEF zu einem anderen Einsatz abberufen wird, falls der Patientenzustand dies erlaubt.
Nach dem Einsatz kann eines von beiden Teams rasch einen Folgeauftrag erhalten, sodaß auch in diesem Fall die unmittelbare Besprechung nicht möglich ist.
Hat man gemeinsam mit dem Team eines Rettungshubschraubers gearbeitet, so transportiert dieses im Anschluß den Patienten und steht für die Nachbesprechung ebenfalls nicht mehr zur Verfügung.
4.2. Hindernisse im Klinikalltag
Teams sowohl in Notaufnahmen, wie auch auf Intensiv- und Normalstationen und im OP sind meist stark mit Arbeit ausgelastet und müssen sich rasch der nächsten Patientin zuwenden.
Personalknappheit verschärft dieses Problem.
Wenn interdisziplinäre Teams zusammenarbeiten, z. B. die Anästhesiologen mit den Fachkollegen der operativen Fächer, muß erst ein Konsens erreicht werden, wann und wie Nachbesprechungen stattfinden.
4.3. Wie integrieren wir die Nachbesprechung trotz aller Widrigkeiten?
Sowohl im Rettungsdienst wie auch in der Klinik ist es vor allem wichtig, ein Bewußtsein für die Notwendigkeit der Nachbesprechung zu schaffen. Sodann müssen die Beteiligten eine Struktur erarbeiten und festlegen, nach welchen Ereignissen sie nachbesprechen wollen.
In allen Bereichen hilft es, diese Besprechungen kurz zu halten und stringent die wichtigsten Punkte zusammenzutragen, ohne dabei lange abzuschweifen.
Eine kurze Nachbesprechung von nur einem oder zwei Punkten mit nachhaltiger Umsetzung des Ergebnisses ist besser als keine oder eine lange ohne Ergebnisse.
Bei Folgeeinsätzen können RTW- und NEF-Team ihre Besprechung später auf der Wache abhalten, wenn beide am selben Stützpunkt stationiert sind.
Diese Ansätze bieten natürlich nicht für alle Hindernisse eine geeignete Lösung, erhöhen aber die Häufigkeit von Nachbesprechungen.
5. Erfolgreiche Umsetzung der Lernpunkte
5.1. Umsetzung im eigenen Team
Für die eigene Abteilung bietet es sich an, den Fall zu anonymisieren und möglichst vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einem angekündigten Termin als Lerngelegenheit vorzustellen.
Nach dieser Vorstellung überlegt die Belegschaft gemeinsam, wie der Fehler in der Zukunft verhindert werden kann, falls das betroffene Team nicht schon selbst Lösungen vorgeschlagen hat. Die Belegschaft legt auch fest, wie sie den Effekt ihrer Maßnahmen überprüfen will. Wiederum können die Beteiligten das London-Protokoll anwenden.
5.2. Zwei kurze Beispiele
Ein zweites Medikament anstelle von Wasser zu Injektionszwecken
Bei einem rettungsdienstlichen Einsatz war ein Blutverdünner zusammen mit einem blutdrucksenkendem Medikament anstelle von Wasser zu Injektionszwecken aufgezogen worden. Ursache dafür war, daß der Blutverdünner mit der falschen Ampulle zusammen gebündelt worden war. Dieser Zweierpack war schon vor dem Einsatz, den internen Leitlinien entsprechend (Blutverdünner zusammen mit dem Wasser) so vorbereitet worden.
Die Belegschaft reagierte hervorragend. Das betroffene Einsatzteam besprach den Fall nach und gab ihn anonymisiert an alle weiter. Natürlich wurde auch eine Lösung erarbeitet und umgesetzt.
Damit ein solches Zusammenpacken mit einem zweiten Medikament anstelle von Wasser zu Injektionszwecken künftig nicht mehr vorkommen kann, wird seit diesem Ereignis nur noch Wasser in Plastikampullen hinzugepackt, während die meisten Medikamente in Glasampullen geliefert werden.
Muskelrelaxantien in einem schweizer OP
Wenn man einem wachen Patienten versehentlich ein Muskelrelaxans während der Einleitung einer Narkose als erstes spritzt, so wird dieser inclusive seiner Atemmuskulatur bei vollem Bewußtsein dadurch gelähmt. Die rasche Einleitung der restlichen Narkose und sofortige Beatmung sind dann essentiell. Wir müssen nicht extra erwähnen, daß ein solches Erleben für den Patienten traumatisierend ist.
In einem schweizer OP ist es daher üblich, Muskelrelaxantien ausschließlich in Spritzen mit fünf Milliliter Fassungsvolumen aufzuziehen und alle anderen Medikamente niemals in Spritzen mit diesem Volumen. Manche Ärztinnen, Ärzte und Assistierende gehen noch weiter und legen die Muskelrelaxantien getrennt von den übrigen Medikamenten ab.
5.3. So können andere von den Ergebnissen profitieren
Im Internet sind fachspezifische Portale vorhanden, in welchen man Beinahefehler und Fehler anonym einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen kann. Diese Portale bezeichnet man als Critical Incident Reporting Systems, CIRS. In manchen werden die Fälle kommentiert und Strategien zur Vermeidung des besprochenen Fehlers präsentiert. Ein Beispiel ist CIRS.Bayern.
Nach dieser fleißigen Aufarbeitung dürfen wir erneut die guten Leistungen und ihre Hintergründe nicht vergessen. Vielmehr sollten wir die Erfolge als Lerngelegenheiten weitergeben und uns positiv inspirieren lassen.
6. Die nächsten beiden Blogartikel gehören zusammen
Auf den August müssen wir uns ordentlich vorbereiten. Dann nämlich werden wir uns ansehen, wie eine über CRM hinaus bekannte Persönlichkeit ihre posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, nicht nur überwunden hat, sondern auch andere darüber aufklärt und ermutigt, damit offen umzugehen, um einen erfolgreichen Heilungsprozeß durchlaufen zu können.
Damit es nicht zu viel auf einmal wird, werden wir im Juli die Themen posttraumatischer Streß, PTS, und posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, vorweg bearbeiten. Was kennzeichnet die beiden? Wie grenzen wir sie voneinander ab? Was sind die neurologischen Grundlagen, Symptome und Therapieoptionen?
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 26. Juni 2022
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.